7. Oktober 2020 20:00 Uhr
Gegen die Scham
Anna Mayr und Deniz Ohde
»Ich stehe ja am Rande der Gesellschaft«, sagt die Erzählerin in Deniz Ohdes Debütroman Streulicht(Suhrkamp 2020) lachend zu ihren Freund*innen aus Mittelstandsfamilien, um bloßstellenden Bemerkungen zuvorzukommen. Ohdes bemerkenswertes Buch erzählt unter anderem davon, wie wenig in Deutschland von ›Chancengleichheit‹ die Rede sein kann. In kaum einem anderen reichen Land ist die Bildungslaufbahn so abhängig vom sozio-ökonomischen Hintergrund wie hier.
»Ich bin vollkommen bereit dazu, die finanzielle Aufspaltung unter Erwachsenen als unschöne Nebenwirkung des Kapitalismus zu akzeptieren ... Aber zu akzeptieren, dass aus einem Jungen, der in einer armen Familie aufwächst, niemals ein professioneller Balletttänzer werden kann oder ein Dressurreiter, das fällt mir schwer«, schreibt Anna Mayr in Die Elenden (Hanser Berlin 2020). Früher schämte sich die ZEIT-Redakteurin für ihre langzeitarbeislosen Eltern. Heute weiß und zeigt Mayr, dass unsere Gesellschaft Menschen wie ihre Eltern braucht: als drohendes Bild des Elends, damit alle anderen wissen, dass sie selbst das Richtige tun, nämlich unermüdlich arbeiten.
Anna-Marie Humbert (Berlin) will mit beiden Autorinnen ergründen, wie sich über Armut, Abwertung, Scham, erschwerte Teilhabe schreiben und reden lässt – analytisch, essayistisch, literarisch.
In Kooperation mit dem Fachdienst Kultur der Stadt Göttingen und dem StadtRadio Göttingen.